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Geschichte des Barpianospiels

Dem Pianisten über die Schulter geschaut

Schubertiade Darstellung einer Schubertiade

Die Wurzeln des Barpiano-Spiels liegen im 19. Jahrhundert. Im Zeitalter des Biedermeier, nach dem Ende der napoleonischen Wirren, war das Klavier zu einem Statussymbol des Adels und auch des Bürgertums geworden. Musiker wie Franz Schubert, Frédéric Chopin, Robert Schumann und Felix Mendelssohn-Bartholdy wuchsen in einem Umfeld auf, in dem das häusliche Musizieren höchsten Stellenwert genoss. Die sogenannten "Schubertiaden", die geselligen Musikveranstaltungen mit Franz Schubert am Klavier, sind noch heute legendär.

Entsprechend veränderte sich auch die Klaviermusik: Statt der großen Klavierkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts und der komplexen Klaviersonaten Ludwig van Beethovens entstanden nun kürzere, intimere Stücke. In diesen Kompositionen ging es mehr um die Stimmung, um die Poesie, um einen bestimmten Charakter – ganz im Sinne des ästhetischen Programms der Romantik. Impromptus, Nocturnes, Préludes, Balladen, Ecossaisen, Klavier-Walzer, Moments musicaux, Lieder ohne Worte – die neuen Formen der Klaviermusik haben sehr unterschiedliche, oft französische Namen. Gemeinsam ist ihnen allen der Zug zum Überschaubaren, zur emotionalen Vertiefung, zum "Charakterstück", wie man viele der frühromantischen Klavierstücke später genannt hat.

Aufgeführt wurde diese Musik an den verschiedensten Orten: Im Konzert, bei häuslichen Zusammenkünften, in den Salons adliger Damen. Vor allem Frédéric Chopin ist ein Musiker, der mit seiner Aufführungspraxis schon ziemlich nahe an das herankommt, was wir später beim klassischen Barpianisten wiederfinden werden.

Erik Satie Kunst des fin de siècle:
Erik Satie, Pianist und Komponist, gemalt von Suzanne Valadon

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Situation. Die Industrialisierung war in vollem Gange, alte Gesellschaftsordnungen gerieten ins Wanken, die Moderne begann sich, ausgehend von der Malerei, in allen Kunstsparten anzukündigen. Die unterhaltende Klaviermusik blieb von alledem nicht unberührt. Das Klavier begann, vom Salon in die Cafés, in die Cabarets und Künstlerkneipen zu wandern. Das Umfeld wurde frivoler. Neues kulturelles Zentrum war nun das Pariser Künstlerviertel Montmartre. Bohémiens, Ästhetizisten und Dandys tummelten sich dort um den Klavierspieler (und oftmals gehörte er selbst auch dazu): Die Epoche des fin de siècle war angebrochen.

Gleichzeitig diente die Klaviermusik aber weiterhin einer – allerdings gewandelten – gesellschaftlichen Oberschicht zur Repräsentation. Auf den großen transatlantischen Schiffen durften Konzertflügel und Pianist nicht fehlen: Die Epoche des fin de siècle ist gleichzeitig die Belle Époque, in der sich Fortschrittsgläubigkeit und Gigantismus verbanden. Der Untergang der "unsinkbaren" Titanic 1912 war schließlich ein Fanal für den Untergang dieser ganzen Welt: 1914 brach der Erste Weltkrieg aus, die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", an dessen Ende nichts mehr so sein sollte wie vorher.

Duke Ellington Neue Klänge aus Amerika:
Duke Ellington

In der Jahren nach dem Krieg entstand im eigentlichen Sinne das, was wir heute mit dem Begriff Barpiano verbinden. Viele Faktoren waren dafür ausschlaggebend: Der Aufstieg Amerikas und damit einhergehend der Aufschwung von Jazz und Swing auch in Europa, eine politisch, gesellschaftlich und moralisch radikal veränderte Gesellschaft, vor allem in Großstädten wie Berlin, etwas später dann die Entstehung des Tonfilms. Wahrscheinlich bestimmen die klassischen Filme aus den 30er und 40er Jahren unser Bild vom Bar-Pianisten auch heute noch mehr als alles andere.

Die Zeit von 1920 bis 1960 kann man wohl mit Recht die Goldene Zeit des Barpiano-Spiels nennen. Und während Europa in den 30er und 40er Jahren in Diktatur und Krieg versank, gelangte die Kunst der stilvollen Klavier-Unterhaltung in Amerika zur Blüte. In New York entstanden die ersten klassischen Piano-Bars, im Berlin der 20er Jahre sang man "Man müsste Klavier spielen können..."

Otto Dix Otto Dix: "Die Großstadt"

Damals war in Cafés und Restaurants Musik von Tonträger noch unbekannt – doch die Menschen verlangten trotzdem nach Unterhaltung und Zerstreuung. So war es Aufgabe der Live-Musiker, sei's einer Tanzkapelle, sei's eines Bar-Pianisten, stets die aktuellsten Schlager präsent zu haben. Eine große Zahl von Liedern, viele davon heute vergessen, erzählen von der Allgegenwart der Klavierspieler und Musikanten in den Cafés und Tanzlokalen der 20er Jahre: "Es war einmal ein Musikus, der spielte im Café", "Guck doch nicht immer nach dem Tangogeiger hin", "Er ist nur Barspieler", "Hein spielt abends so schön auf dem Schifferklavier", "Wir machen Musik", "Armer Musikant", "Musikanten sind da"...

Simon Schott Barpianist Simon Schott

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das Barklavier-Spiel zunächst einen Aufschwung. Paris wurde nun wieder zum Zentrum: dort war in den 50er Jahren etwa der legendäre deutsche Bar-Pianist Simon Schott tätig. Ab den 60er Jahren folgten hingegen drei Jahrzehnte, in denen die Barmusik eher in den Hintergrund trat. Mit dem Siegeszug der Popmusik wirkte sie auf die junge Generation altmodisch. Sie erschien langweilig gegenüber den Klängen einer Rockband, elitär durch ihre Stilhöhe und ihre dezente Zurückhaltung: wahrlich nichts für eine Generation, die sich als revolutionär, als Avantgarde fühlte.

Ab den 90er Jahren hat sich die Situation wiederum geändert. Die Gesellschaft ist vielfältiger, pluralistischer geworden. Vielzitierte "Retro-Wellen" lassen Stilrichtungen der Vergangenheit wieder aufleben. Neues verbindet sich mit Altem, "anything goes" und nicht mehr "Fortschritt" ist das Wort der Stunde: Postmoderne sagen manche dazu. Sänger wie Max Raabe und Roger Cicero stürmen mit alten und neukomponierten Liedern, die sich an Schlager und Swing orientieren, die Charts – dreißig Jahre früher wäre das noch undenkbar gewesen. Und der Bar-Pianist, vermeintlich schon dem Untergang geweiht, feiert fröhliche Auferstehung.

Piano-Bar Moderne Piano-Bar

Heute hat sich die Barklavier-Musik ebenbürtig neben die anderen Formen der Musik-Unterhaltung gestellt. Es gibt kein unerbittliches "richtig" oder "falsch", kein "modern" oder "hoffnungslos veraltet", sondern es kommt auf den Anlass an: Für feierliche und stilvolle Gelegenheiten wie Hochzeiten und Empfänge ist ein Barpianist genau richtig – für Parties oder Subkultur-Events kommt eher eine Band oder ein DJ zum Zug.

Die Zeiten, da der "Mann am Klavier" ein universeller Allrounder für jede Gelegenheit war, sind allerdings vorbei. Ebenso aber auch die Zeiten, da er, als reaktionär und elitär verschrien, schon auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen schien. Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist vieles verschiedene gleichzeitig zu koexistieren imstande – insbesondere in einer Weltstadt wie Berlin. Warten wir ab, was die Zukunft für den Barpianisten bereithält.